Am Rande einer großen Stadt lebte einst eine Gärtnerin. Von allen Pflanzen dieser Erde waren Gänseblümchen ihr am liebsten.
Wann immer die Gärtnerin in ihrem Garten ein neues Gänseblümchen erblickte, freute sie sich und war glücklich.
Starb aber eines der Gänseblümchen, so brach die Gärtnerin in bitterliche Tränen aus.
Eines Tages sagte die Gärtnerin: „Irgendwie muss es doch zu schaffen sein, dass Gänseblümchen länger leben!“
Die Gärtnerin setzte sich in einen Schaukelstuhl und überlegte. „Zunächst einmal“, so dachte sie, „gilt es herauszufinden, weshalb manche Gänseblümchen länger leben als andere! Jedem gebe ich doch die gleiche, indviduelle Pflege!“ Nach umfangreichen Studien im Felde fand die Gärtnerin heraus:
Gänseblümchen mit mehr als 29 Blütenblätter sterben früher!
Von da an zählte die Gärtnerin täglich sämtliche Blütenblätter sämtlicher Gänseblümchen und rupfte überzählige Blütenblätter heraus. „Es ist zu deinem Besten“, sagte sie, wenn ein Gänseblümchen dabei weinte.
Doch, oh Schreck! Anstatt länger zu leben, starben die Gänseblümchen mit den überzähligen Blütenblättern früher als ohnehin schon! Die Gärtnerin war ratlos.
Da kam ein Mann der Pharmaindustrie vorbei. Er wusste sofort eine Lösung. „Gärtnerin“, sagte er, „das ist doch heutzutage kein Problem! Dafür gibt es Normabeperin® – ein Präparat, das überzählige Gänseblümchenblütenblätter gar nicht erst gedeihen lässt!“
Die Gärtnerin war begeistert und errichtete eine Anlage, die allen Gänseblümchen mit überzähligen Blütenblättern vermittels Schläuchen in individuell benötigten Dosierungen Normabeperin® zuführte.
Zwar wurden die Gänseblümchen mit den Schläuchen manchmal von den anderen als „hässliche Schlauchies“ beschimpft, doch lebten die Problem-Gänseblümchen nun so lange, wie normale Gänseblümchen auch. „Das ist das Wichtigste!“ sagte die Gärtnerin. Allerdings: Noch immer lag die Lebenserwartung einiger Gänseblümchen niedriger als die anderer. Noch immer brach die Gärtnerin in bitterliche Tränen aus, wenn eines der geliebten Gänseblümchen starb.
„Irgendwie muss es doch zu schaffen sein,“, sagte sich die Gärtnerin, „dass Gänseblümchen noch viel, viel länger leben!“ Nach umfangreichen Studien im Felde fand sie heraus:
Gänseblümchen mit ungeradem Stengel sterben früher!
Fortan befestigte die Gärtnerin an jedem Gänseblümchen vorbeugend eine Stengel-Haltungshilfe.
Zwar waren nun sämtliche Gänseblümchen traurig, weil sie sich nicht mehr im Wind wiegen konnten wie früher, doch stieg ihre durchschnittliche Lebenserwartung enorm.
Aber die Gärtnerin war nicht ganz zufrieden. Noch immer lebten einige Gänseblümchen nicht so lang wie andere. Noch immer brach die Gärtnerin in bitterliche Tränen aus, wenn eines der geliebten Gänseblümchen starb. Daher stellte die Gärtnerin weitere Untersuchungen an und fand heraus:
Gänseblümchen, deren Blüten in ungünstigen Winkeln dem Sonnenweg folgen, sterben früher!
So bekam jedes Gänseblümchen ein Häubchen übergestülpt, das in alle Richtungen gleichmäßig künstliches Sonnenlicht abgab. Zwar wurden die Gänseblümchen unter den Häubchen sehr einsam und noch viel trauriger, doch stieg ihre Lebenserwartung ganz enorm. „Das ist das Wichtigste!“ sagte die Gärtnerin. Allerdings entstand durch die Häubchen ein Problem: „Wie soll ich nun erkennen, wie es meinen Gänseblümchen geht?“ Die Gärtnerin war ratlos.
Nicht lange, und ein Mann der Medizintechnikindustrie kam vorbei. Er wusste sofort eine Lösung. „Gärtnerin“, sagte er, „das ist doch heutzutage kein Problem! Wir haben da geeignete Sensoren!“
In den folgenden Wochen wurde der Garten mit einem hochsensiblen System ausgestattet, das sämtliche wichtigen Körper-Daten eines jeden Gänseblümchens in Echtzeit grafisch und numerisch auf hochauflösenden Bildschirmen sichtbar machte.
Nichts konnte der Gärtnerin nun noch entgehen! Auch der Tod eines Gänseblümchens nicht, denn er wurde nicht nur auf den Bildschirmen anhand der Daten sichtbar gemacht, sondern sogar durch einen lauten Piepton gemeldet. – Und seltsam: Ein sterbendes Gänseblümchen beweinen musste die Gärtnerin von da an nicht mehr.
Und so verging die Zeit. Die Gänseblümchen lebten unter ständiger Beobachtung in ihrem Gefängnis. Keine Sonne, keine frische Luft, umgeben von Sensoren, Bildschirmen und Überwachungsgeräten. Zwar lebten sie nun länger, aber ein längeres Leben heißt nicht gleich ein glücklicheres.
Auch bemerkten die Gänseblümchen eine Veränderung bei der Gärtnerin. Beweinte sie vor nicht allzu langer Zeit noch den Verlust eines jeden Gänseblümchens, so tat sie das nun nicht mehr, denn aufgrund der aufgezeichneten Daten wusste sie, wann ein Gänseblümchen sterben würde.
Die Gänseblümchen waren unglücklich. Wann immer die Sonne draußen schien, wünschten sie sich, ihre Köpfe dem warmen Licht entgegen zu strecken und schauten sehnsüchtig den Hummeln und Bienen nach, die an ihnen vorbei flogen.
Eines Tages, es war ein wunderschöner Hochsommertag, flog eine kleine dicke Hummel an dem Gänseblümchen-Gefängnis vorbei. Sie stutzte, konnte sie doch nicht verstehen, warum die Gänseblümchen nicht wie andere Blumen auch draußen waren und die Hummeln und Bienen freudig begrüßten, wenn sie vorbei flogen. Stattdessen sahen die Gänseblümchen traurig aus und sie taten der kleinen dicken Hummel leid. Dabei sahen sie sehr gesund aus, alle waren schlank, hatten eine ideale Körperhaltung und optimale Anzahlen von Blütenblättern.
Die Hummel dachte sich: „Ich muss was dagegen unternehmen“. Doch sie wusste nicht, was. Wie konnte sie die Gänseblümchen von der Gärtnerin befreien? Die Hummel war allein; und ohne Hilfe war eine Befreiungsaktion aussichtslos. Jedoch war die Hummel, obwohl sie viel kleiner und schwächer war als die Gärtnerin, sehr schlau.
Zwar hatte die Hummel (bis jetzt) noch keine Ahnung von der Technik, aber sie hatte einen Plan und wusste wo sie das nötige Wissen herbekommen könnte. Es musste irgendwie möglich sein die hochsensible Überwachungsanlage der Gärtnerin zu zerstören oder auszutricksen!
So kam die Hummel am nächsten Tag wieder zum Gänseblümchen-Gefängnis und beobachtete die Gärtnerin an ihren Monitoren. Die kleine dicke Hummel machte es sich zur Aufgabe alles bis ins kleinste Detail zu erfassen und herauszufinden. So wurde es zu einem Ritual, dass die Hummel jeden Tag für mehrere Stunden das Gänseblümchen-Gefängnis und seine Wächterin beobachtete.
Dies blieb natürlich den Gänseblümchen nicht verborgen. Jedoch konnten sie sich nicht vorstellen, dass eine kleine dicke Hummel sie von ihrem Leiden befreien konnte. Sie passte ja noch nicht einmal durch die Löcher im Zaun. Aber das hielt die Hummel nicht davon ab, die Gänseblümchen retten zu wollen.
Anfangs verspotteten die Gefangenen noch das Ritual und den Plan der Hummel, doch als sie bemerkten, dass es der Hummel ernst war, setzte auch bei ihnen der Glaube an eine Befreiung ein. Jedoch mussten sich die Gänseblümchen noch eine Weile gedulden, und so verging einige Zeit bis der große Plan in die Tat umgesetzt wurde.
Am Abend, als die Dämmerung hereinbrach, machte sich die kleine Hummel auf den Weg zu den Gänseblümchen. Dort weihte sie die Gefangenen ein: „Wenn ich wieder raus komme, dann müsst ihr so tun als ob ihr tot seid, ja?“ Dann wartete sie den letzten Kontrollgang der Gärtnerin ab und folgte ihr unbemerkt in den Überwachungsraum. Nachdem die Gärtnerin den Raum wieder verlassen hatte, machte sich die kleine Hummel ans Werk. Sie programmierte das System um.
Nun zeigte das System an, die Gänseblümchen seien alle tot. Als Grund nannte das System: zu wenig Sonnenlicht und eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Schnell machte sich die Hummel auf den Weg zurück zu den Gänseblümchen. Als diese die Hummel sahen, stellten sie sich tot.
Kurz darauf wurde die Gärtnerin durch ein Signal der Überwachungsanlage aufmerksam auf die Veränderung. Schnell machte sie sich auf den Weg zu den Gänseblümchen, doch es war zu spät. Die Köpfe ihrer geliebten Gänseblümchen hingen leblos herab. „Wie konnte das nur geschehen? Was hab ich nur getan?“ Die Gärtnerin machte sich schreckliche Vorwürfe und entfernte sofort alle Überwachungsgeräte und öffnete das Gefängnis.
Und so befreite die kleine dicke Hummel trotz aller Zweifel die Gänseblümchen, und sie konnten endlich wieder ihre Köpfe der warmen Sonne entgegenstrecken.